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P. Zellmann: Da stehen nationale Egoismen im Vordergrund

Tourismus- und Freizeitforscher Peter Zellmann hält das aktuelle „Ischgl-Bashing“ für kontraproduktiv und warnt vor negativen Auswirkungen auf die kommende Wintersaison. 

Für Tourismus- und Freizeitforscher Peter Zellmann ist das zögerliche Vorgehen der Politik seit der dritten Woche ab dem Lock-down ein enormer Stolperstein für die Tourismus- und Reisebranche. Er spricht von „irreparablen Schäden“, die angerichtet wurden. Die Bedeutung dieses Wirtschaftssektors sei wesentlich höher als sie von der Politik wahrgenommen werde. Bei der Vorgangsweise bei den Grenzöffnungen fragt er sich, wo „das vereinte Europa bleibe“. Zudem kritisiert Zellmann, dass die Menschen entmündigt wurden. Jetzt sei es Zeit, ihnen die Eigenverantwortung zurückzugeben.

Fragen & Antworten

tip-online: Wie haben Sie die Krise überstanden?
Peter Zellmann: Für jemand, der wie ich immer im Home Office arbeitet, hat sich nicht viel verändert. Vermisst habe ich den Plausch mit Familie und Freunden, den Besuch beim Heurigen, kurz das, was den Freizeit-Alltag ausmacht.

tip-online: Wie lautet Ihre Definition von Tourismus?
Peter Zellmann: Die pragmatische und technokratische Definition ist ganz klar. Tourismus ist eine Reise, verbunden mit einer oder mehreren Übernachtungen.

tip-online: In der österreichischen Politik wird Tourismus mit Inlandstourismus gleichgesetzt....
Peter Zellmann: Für Reisebüros und Veranstalter ist die Definition genau umgekehrt, für sie geht es bei Tourismus vor allem um Reisen ins Ausland. In Österreich liegt das wirtschaftliche Interesse vorwiegend an Incoming- und Inlandstourismus. Vordergründig sind Incoming und Outgoing wirtschaftlich unterschiedliche Interessen. Die Bedürfnishaltung der Reisenden ist jedoch sehr ähnlich, egal, ob sie ins Ausland oder im Inland verreisen.

Wirtschaftlich katastrophal und sehr blauäugig

 

tip-online: Wie beurteilen Sie die Maßnahmen, die von der Politik in den vergangenen Wochen im Tourismus gesetzt wurden?
Peter Zellmann: Das ist wirtschaftlich katastrophal und sehr blauäugig. Da ist oft der Wunsch der Vater des Gedankens. 25% der österreichischen Tourismusbetriebe sperren erst gar nicht auf. Mit 60% Auslastung können sie nicht überleben. Bei vielen Familienbetrieben ist das betriebswirtschaftliche Know how nicht sehr ausgeprägt. Die Auswirkungen werden erst im Herbst zu sehen sein. Das Ischgl-Bashing, das jetzt betrieben wird, halte ich für falsch, vor allem in Hinblick auf die Wintersaison. Ischgl oder Après Ski allgemein an den Pranger zu stellen, ist kontraproduktiv. Von den rund 11.000 Gästen im Ort nehmen maximal 20% an solchen Massenveranstaltungen teil, die Hotspots bei Infektionen sind. Das Heruntermachen des Wintertourismus gefällt mir nicht. Wenn wir die Selbstgeißelung wie bei Ischgl weiter betreiben, wird das noch bis in den Winter Nachwirkungen haben. Die Aussage des Vize-Kanzlers „Ich will vermeiden, dass wir im Sommer 1.000 Ischgls haben“, war katastrophal.

tip-online: Der Lock-down ist aber doch rechtzeitig verhängt worden, so dass die Ausbreitung der Infektionen schnell gestoppt werden konnte. Was ist dann schief gelaufen?
Peter Zellmann: Bis zur dritten Woche waren die Maßnahmen richtig, dann war das Vorgehen der Politik sehr zögerlich. Diese Zögerlichkeit seit Ostern hat besonders dem Tourismus sehr geschadet und war nicht durchdacht. Es fehlt an klaren Botschaften und konsequenterem Vorgehen. In Österreich gab es schon immer einen Mangel bei positiven politischen Rahmenbedingungen für den Tourismus. Der Anteil am BIP ist ja deutlich höher als die ausgewiesenen 15%. Die Bedeutung des Tourismus für Österreich ist größer als die Politiker es sehen. Der eigentliche Anteil des Tourismus am BIP liegt bei der Mittelverwendung bei geschätzt 25%, wenn man Tourismus und Freizeitwirtschaft zusammenrechnet. Jeder dritte Arbeitsplatz hängt zumindest teilweise vom Tourismus ab.

tip-online: Das Vorgehen Österreichs bei den Grenzöffnungen zeigt ja nicht von europäischer Geisteshaltung. Deutschland geht da logischer vor. Wie sehen Sie das?
Peter Zellmann: Da stehen nationale Egoismen und Politik im Vordergrund. Die Haltung „wir bleiben zu Hause, reisen nicht ins Ausland, aber ihr kommt zu uns“ passt nicht zusammen. Deutschland macht es auch nicht besser als Österreich, allerdings können die Politiker die Konsequenzen dort eventuell besser einordnen. Tourismus ist für politische Spiele am schlechtesten geeignet. Seit Ostern geht es bei den Maßnahmen um Politik, nicht mehr um Gesundheit. Das ist meine persönliche Meinung. 

Unsolidarische Vorgangsweise bei Grenzöffnungen

 

tip-online: Gibt es heuer Chancen, auf einen halbwegs normalen Sommerurlaub?
Peter Zellmann: Im Alltag nehmen viele Menschen Masken in Kauf, aber nicht im Urlaub. Wir hätten alle gerne, dass alle wieder reisen. Aber es gibt viele offene Fragen. Wer kontrolliert was und mit welchen Konsequenzen, darf ich wieder zurück nach Österreich oder muss ich in Quarantäne? Das zeigt, dass bei den Maßnahmen an den Alltag kaum gedacht wurde. Wir wissen nicht, was sich der Minister als Begründung gedacht hat. Eine halbwegs normale Urlaubsplanung und ein halbwegs normaler Urlaub sind unter diesen Voraussetzungen nicht möglich. Dabei ist es nach der Datenlage verantwortbar, den Menschen freizustellen, wohin sie fahren. Vielleicht ändert sich das ja noch….

tip-online: Also doch kein Sommerurlaub am Meer?
Peter Zellmann: Es wird zu spät sein für Sommerurlaub. Es geht viel Zeit verloren, wenn ich eine Pressekonferenz mache, um anzukündigen, dass nächste Woche etwas angekündigt wird. Für die Reiseplanung braucht es Sicherheit, für Unternehmer und für Urlauber. Auch die unsolidarische Vorgangsweise bei den Grenzöffnungen wird Österreich schaden. Das ist meine persönliche Meinung, nicht wissenschaftlich argumentiert. Die Infektionszahlen in Österreich und Friaul-Julisch Venetien sind in etwa gleich. Wenn der Maßstab für die Grenzöffnung 400 neue Erkrankte in ganz Österreich(!) ist, dann heißt das, dass der Tourismus zusperren muss, das ist tödlich für den Tourismus. Jetzt wird zu zögerlich vorgegangen, das wird den Sommer nicht retten. Aber vielleicht ist das ja gewollt. Wir werden das Virus weiter haben, aber seit Ende März liegt der Reproduktionsfaktor unter 1. Die Frage, ob unser Gesundheitssystem, das verkraftet, ist klar mit „ja“ zu beantworten. Jetzt müssen die Entscheidungen in die Eigenverantwortung der Menschen übertragen werden. Im Juli wir die Politik den Aktionismus aufgeben müssen. Aber wie gesagt, für den Sommer ist das zu spät. Wir sind entmündigt worden, besonders die Kinder haben darunter gelitten.

Kein Anlass mehr für Angst

 

tip-online: Wann wird es wieder gewohnte Normalität beim Reisen geben?
Peter Zellmann: Man muss damit rechnen, dass das aktuelle Level der Infektionen noch lange bestehen bleibt. Man wird fliegen können, aber mit Auflagen. Relativ zum Auto gesehen entwickeln sich Flugreisen seit Jahren eher rückläufig. Jetzt werden Flüge entweder teurer, weil Plätze frei bleiben müssen, oder man muss die ganze Zeit mit Maske unterwegs sein. Ein Drittel der Menschen wird gar nicht verreisen wollen, ein Drittel ist noch unsicher und ein Drittel verreist trotz allen Auflagen. Mit der anhaltenden Verunsicherung wird der Anteil derer, die verreisen wollen, täglich kleiner. Seit zehn Jahren wächst die Gruppe derer, die zumindest Teile ihres Urlaubs zu Hause verbringen, konstant um ein bis zwei Prozent. Was heuer beim Urlaub aufgehoben wird, wird nächstes Jahr nachgeholt werden. Urlaubsreisende haben bei Krisen ein Kurzzeitgedächtnis. Für Angst gibt es jetzt keinen Anlass mehr. Aber im Tourismus wurden irreparable Schäden angerichtet, das kann nicht mehr korrigiert werden.

tip-online: Besonders stark betroffen von der Pandemie ist die Kreuzfahrtindustrie. Ist das das Ende der Mega-Liner?
Peter Zellmann: Nein, auch große Schiffe haben eine Zukunft. Wenn Kreuzfahrten jetzt ein bisschen eingebremst werden, ist das ökologisch gesehen vernünftig. In den nächsten fünf Jahren werden die etwa 5 % der Urlauber, die auf ein Kreuzfahrtschiff möchten, das auch machen. Was in 15 Jahren sein wird, kann man nicht vorhersagen. Wenn z.B. die Umweltfrage gelöst wird, wird es Kreuzfahrten weiterhin geben.

Bei Fernreisen verhält es sich ähnlich. Seit 30 Jahren reisen ca. 12% aller österreichischen Urlauber in die Ferne, d.h. 7% bis 8% aller Österreicher. Solange es nicht verboten ist, werden sie dabei bleiben, auch wenn es weniger interessant wird. Wenn der Anteil von 7% auf 5% fällt, klingt das nach nicht viel, aber das sind rd. 120.000 Reisende. Nächstes Jahr wird es einen Aufholprozess geben, aber die Anteile an den einzelnen Reisesektoren, an den Angebotsvarianten wird gleichbleiben.

tip-online: Wie steht es um Urlaub in Österreich?
Peter Zellmann: Österreich ist ein zunehmend beliebtes Ferienziel. Die Sommer werden wärmer, die Winter sind kalt genug, dass auch in den nächsten 15 Jahren Winterurlaub möglich sein wird. Wenn wir es gut machen. (red.)


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Foto: tip

Autor/in:

Herausgeberin / Chefredakteurin

Elo Resch-Pilcik, Mitgründerin des Profi Reisen Verlags im Jahr 1992, kann sich selbst nach mehr als 30 Jahren Touristik - noch? - nicht auf eine einzelne Lieblingsdestination festlegen.





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